Autor: Raffaela Salis

  • IVF – Ein Kind aus dem Labor

    IVF – Ein Kind aus dem Labor

    Auf dem Bild in dem Kinderwunschzentrum strahle ich. Ich bin in guter Hoffnung. Der Hormonpegel war hoch und ich war schwanger. Doch trotz medizinischer Hilfe blieb ich es nicht.

    Für einen Außenstehenden ist es kaum nachvollziehbar, was es für ein Paar bedeutet, sich in die Mühlen eines medizinischen Apparates zu begeben, wenn sich der Kinderwunsch nicht auf natürlichem Wege erfüllt. Der Akt, der normalerweise im Intimen stattfindet, wird plötzlich zu einer Angelegenheit vieler Menschen. Der Arzt fragt nach allem Möglichen: wann Anfang und Ende des letzten Zyklus‘ waren, wann der letzte Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, wann der Mann das letzte Mal einen Samenerguss hatte. Die Sprechstundenhilfe nimmt täglich Blut bei der Frau ab, um den Hormonspiegel zu messen. Das Intimleben eines Paares befindet sich unter einem Vergrößerungsglas. Sobald die Frau die Hormone zu nehmen beginnt – tägliche Spritzen, die man sich selbst in den Bauch injiziert – darf man keinen Geschlechtsverkehr mehr haben und der Mann hat enthaltsam zu sein. Es wird ihm genau erklärt, wie lange er zurückhalten muss, wie er sich ohne Ejakulation stimulieren kann, und wie viele Tage die Spermien brauchen, um sich zu regenerieren, um dann „frisch“ für den „D-Day“ zu sein. Es war peinigend, wobei wir
    Frauen gewiss den physisch anspruchsvolleren Beitrag leisten.

    Am „D-Day“, wenn die herangereiften Eizellen unter Vollnarkose operativ entnommen werden, muss der Partner bereitstehen. Es gibt in allen Kinderwunsch-Praxen Räume zur „Gewinnung“, die sehr unterschiedlich gestaltet sind. Manche sind ganz nüchtern eingerichtet, ein Stuhl, ein Tisch und ein Waschbecken. Andere versuchen eine heimelige Atmosphäre zu schaffen, stellen einen Sessel hinein, Beistelltisch und verstecken das klinische Waschbecken hinter einem Paravent. Die Wände sind nüchtern weiß oder in animierenden warmen Tönen gehalten. Viele halten pornografische Hefte und Filme bereit, es können auch Aktfotos im Zimmer hängen, damit die Männer gleich erregt werden und möglichst schnell an ihr Ziel gelangen. Aber manche Praxen schicken die Herren mit dem Becher einfach nur auf die Toilette. Für mich war der Gedanke verstörend, dass dieser seelenlose Akt zur Zeugung eines Kindes führen sollte. Um diesen Moment beneide ich keinen Mann. Andreas Bernhard formuliert das in seinem fundiert recherchierten Buch „Kinder machen“ sehr pointiert: „Sexualität bringt im Milieu der assistierten Empfängnis nicht mehr neues Leben hervor, sondern hat nur noch mittelbare Funktion: Im Modus der pornografischen Inszenierung hilft sie, dem männlichen Körper jenes Zeugungsmaterial zu entlocken, das unter ärztlicher Assistenz mit dem weiblichen verbunden wird.“1

    Der Becher mit dem Ejakulat kommt möglichst schnell und warm und geschützt ins Labor, denn die gereiften Eizellen dürfen nicht lange warten. Und dann beginnt der Teil, der normalerweise in unserem Körper passieren würde: Samenzellen werden „gewaschen“, geschleudert und präpariert, und Eizellen in eine nährende Lösung gelegt. Unter dem Mikroskop führt der Embryologe oder die Embryologin Samen und Eizellen mit Pipetten in einer Petrischale (in vitro) zusammen. In der nährenden Flüssigkeit bewegen sich die Spermien schnell und finden in der Regel zur Eizelle, die sie wie im Körper auch, durchdringen und befruchten. Wenn die Spermien dazu nicht in der Lage sind, weil sie zu schwach oder unbeweglich sind, werden sie mit Hilfe einer feinen Nadel direkt in die Eizelle injiziert, der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion, auch ICSI genannt.

    Als ich zum ersten Mal von dieser Methode erfuhr, empfand ich sie persönlich als eine „Vergewaltigung“ der Eizelle. Wenn das Spermium die Eizelle unter normalen, natürlichen Bedingungen nicht durchdringt, warum tut man das der Eizelle an, zwingt ihr das Spermium auf? Auch fragte ich mich, wie wirkt sich so eine Prozedur unter Umständen auf das Kind aus? ICSI empfand ich als einen massiven Eingriff. Doch zum Zeitpunkt meiner IVF war auch ich zu ICSI bereit.

    Neben dem biologischen Prozess kommen meines Erachtens Aspekte bei der Zeugung eines Menschen hinzu, die medizinisch keine Relevanz haben mögen, aber vielleicht unser Mensch-Sein ausmachen: was spielt sich in den tiefen Furchen unserer Körperhöhlen ab, wenn sich zwei Menschen lieben? Wie trägt die Energie unserer Körper oder die Intensität unserer Orgasmen dazu bei, dass eben diese eine Eizelle sich mit jener einen Samenzelle unter Millionen vereint?

    Dieses Zufallsmoment, außerhalb jeglicher Einsicht und Kontrolle, ist das, was uns Menschen ausmacht. Das Verschmelzen dieser einen Eizelle mit einem einzigen Spermium machen uns aus – unsere Eigenheiten, unseren Charakter, unser Wesen, unsere Einmaligkeit. Wie kommt es dazu, dass sich gerade diese zwei gefunden haben und miteinander verschmelzen? Was beeinflusst diesen einzigartigen Prozess? Welche Kraft treibt an? Welche Hand führt? Wo kommt die treibende Energie her? Wer entscheidet, ob sich dieses Zellpaket weiterentwickelt, oder wieder abgeht? Dieser Prozess, der außerhalb jeglicher Einflussmöglichkeiten liegt, ist der für mich so Spannende. Selbst die Ärzte sagten immer zu mir: ab dem Moment der Einführung der Blastozyten in die Gebärmutter, arbeitet die Natur – darauf hat der Mensch keinen Einfluss mehr. Es ist ein Wunder. Auch wenn wir Kinder im Reagenzglas erzeugen.

    Technische Innovation macht ein starkes menschliches Einwirken auf den Zeugungsprozess möglich. Dennoch ist Demut geboten. Denn in dem Zufall unserer Entstehung liegt der Zauber unseres Menschseins und unsere Einmaligkeit.


    1Andreas Bernhard, Kinder machen. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung.
    Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2014, S. 99

  • Fehlgeburt

    Fehlgeburt

    Wir wissen, dass sich Paare heute immer später entscheiden, eine Familie zu gründen, wenn die Wahrscheinlichkeit einer natürlichen Empfängnis bereits stark zu sinken beginnt. Dementsprechend steigt die Zahl der Fehlgeburten.

    Im ersten Jahr meiner Kinderwunschzeit erlitt ich zwei Fehlgeburten, zunächst einen spontanen Abgang in der sechsten Woche, und wenige Monate später eine Eileiterschwangerschaft. Es folgten Heulkrämpfe und totale Verzweiflung, Tag und Nacht. Mir dämmerte, dass es nicht „einfach“ passieren würde. Ich war allein, – mein Mann mit meinen Heulattacken völlig überfordert. Es waren Tage der Trauer, des In-sich-Gekehrt-Seins, der Nichtansprechbarkeit. Was ich erlebte, bestätigen Statistiken, ohne etwas zu beschönigen: ab dem 31. Lebensjahr nimmt die Fruchtbarkeit rapide ab. Die fruchtbarste Zeit liegt zwischen 20 und 30 Jahren. Mit 38 liegt die Wahrscheinlichkeit schwanger zu werden bei nur noch 15% bis höchstens 30%. Mein Abgang war ein ganz normaler Vorfall.

    Viele Paare teilen meine Erfahrung. Der Traum von einem Kind schwebte wie eine sich immer weiter entfernende Fata Morgana vor mir. Der Gang in die Apotheke, um einen weiteren Schwangerschaftstest zu besorgen, wurde zu einem demütigenden Erlebnis. Bei jedem Bluttest beim Arzt, wusste ich schon Bescheid, sobald sich die Tonlage der Sprechstundenhilfe einstellte: „Der Test ist …“ – kurzes Innehalten – „… leider negativ“.

    Ich ging meiner Arbeit weiter nach, auch um mich abzulenken – aber ich fühlte mich der Welt abhandengekommen. Diese unendliche Niedergeschlagenheit war auch hormonell bedingt. Bildlich gesprochen, hatte ich mich auf einem hormonellen Hochplateau befunden, von dem ich jäh herabgestürzt war. Der Sturz von dem fast euphorischen Hoch in die Leere der Zeit nach dem Abgang ist unfassbar grausam und unbarmherzig. Jede dritte Frau erlebt das übrigens.

    Beim zweiten Abgang musste die Eileiterschwangerschaft operativ behoben werden, da sie lebensbedrohlich werden kann. Als ich nach der OP in einem Zweibettzimmer der Frauenklinik erwachte, und langsam wieder zu mir kam, gratulierte mir die Frau neben mir. Ich fragte, wozu sie mir gratuliere. „Na, zu Ihrem Kind.“ Sie konnte nicht wissen, dass sie mich aufgrund der Überfüllung der Klinik ausgerechnet in die Geburtenstation gelegt hatten. Ich war ein sogenannter „Verlegenheitsfall“ und landete dort, wo ich am meisten sein wollte, – aber leider aus dem falschen Grund.

    So lauschte ich in den Tagen und Nächten meines Klinikaufenthaltes, wie diese Mutter und ihr Neugeborenes sich kennen lernten: das Baby lag die meiste Zeit bei ihr und schien ihr mit zarten, schmatzenden Lauten zu antworten, während sie es stillte und mit ihm leise plauderte.

    Im Nachhinein habe ich oft gedacht, dass der Klinikbesuch mich in eine Art innerliche Starre versetzt hatte. Es war, als verweigerte ich eine Wiederholung dieser überaus schonungslosen und schmerzvollen Erfahrung. Die Abgänge und die Zeit in der Klink hatten mich zutiefst verstört. Mein Mann und die Familie versuchten das Ganze herunterzuspielen. Es sei alles „halb so wild“ – eine Haltung, die mir das Gefühl gab, als handele es sich um eine Blinddarmentfernung und nicht eine gescheiterte Schwangerschaft. Alle gaben sich überzeugt, ich würde bald wieder schwanger werden. Aber keiner ahnte, was es in mir ausgelöst hatte. Ich war wie auf einer abgebrochenen Scholle und trieb allein auf hoher See.

    Jahre später fand ich auf dem Speicher meiner Großmutter meine Spielsachen, von meiner Großmutter sorgfältig in Kisten verpackt, damit ich sie eines Tages für meine eigenen Kinder hervorholen würde. Unter den vielen Puppen fand ich eine von mir sehr geliebte Puppe, mit der ich am allermeisten gespielt hatte. Sie war für mich Inbegriff meines kindlichen Mutterdaseins gewesen und mit ihr hatte ich meine Phantasien von einem späteren, wahren Muttersein gelebt, eine Vorstellung, die mich schon damals mit Vorfreude erfüllt hatte. Nun fand ich meine geliebte Puppe und ihre Kleider, liebevoll verpackt, in den Kisten wieder. Ich holte sie aus ihrem Dornröschenschlaf und mit ihr meine Gewissheit von damals. Sie war meine Lieblingspuppe, weil sie der Größe eines echten Babys hatte und auch „echte“ Babykleidung tragen konnte. Ich nahm sie in den Arm, drückte sie an mein Herz und spürte all meine Sehnsucht und Zuversicht von ehedem, die sich nun in Tränen der Gewissheit, dass aus meiner Vorstellung von damals nie Realität werden würde, löste. Lange verweilte ich so, mit meiner Puppe auf dem Arm, und ließ dieses Gefühl noch lange auf mich wirken. Ich war 46 Jahre alt.

    Fotonachweis:  ©Alissa Lüpke

  • Generation X

    Generation X

    1968 geboren, gehöre ich nicht mehr ganz zu den geburtenstarken Babyboomern, sondern eigentlich schon zur Generation X. Eindeutig waren wir die erste Generation Frauen, welche erstmalig die dieselben Möglichkeiten wie ihre Brüder und Mitschüler bekamen und Freiheiten genossen, von denen unsere Mütter noch träumten. In den Schulen gab es große Schulklassen, wir zählten in manchen Jahrgängen bis zu 40 Kindern in einer Klasse. Der Wettbewerb war groß und es drängten viele auf den boomenden Arbeitsmarkt.

    Ich gehörte zu den Ersten, die schon in der Schulzeit ein Auslandsjahr machte. Nach dem Abitur ging ich zum Studieren nach England. Während der Sommer machte ich Praktika, um berufliche Praxis zu gewinnen und weitere Sprachen zu lernen. „The world was our oyster“, – diesem Motto treu, entdeckten wir uns und die Welt, reisten und verbrachten auch längere Zeit im Ausland, und wenn wir in Partnerschaft waren, nannten wir uns „Lebensabschnittsgefährten“. Für die meisten lag die Familienplanung in weiter Ferne. Unsere Mütter hatten mit Anfang, spätestens Mitte Zwanzig Kinder bekommen, in unserer Generation bekam frau die ersten Kinder oft erst Anfang Dreißig.

    Nach den Jahren der Ausbildung und Freizügigkeit konzentrierten wir Babyboomer und Generation X Kids uns auf unseren beruflichen Werdegang. Hohe berufliche Einsatz- und Aufopferungsbereitschaft wurde erwartet. Wir waren viele, die sich auf wenige Stellen bewarben. Burn-out und Depression waren die Folgen eines wachsenden Arbeitspensums. Anders als unsere Väter, die sich für einen Berufszweig oder ein Unternehmen entschieden, und dort ihr ganzes Leben verbrachten, wechselten wir viele Male unsere Arbeitgeber, berufliche Ausrichtung oder Standorte. Diese Wechsel forderten nicht nur inhaltliche Flexibilität und Bereitschaft zur Neuorientierung, sondern auch zeitliche und geografische Anpassungsfähigkeit. Mit der Veränderung der Berufswelt und dem gleichzeitigen gesellschaftlichen Wandel, genossen wir junge Frauen erstmalig dieselben Freiheiten wie unsere männlichen Altersgenossen.

    Auch für die jungen Männer hatte dieser gesellschaftliche Wandel Folgen. Die freien Frauen machten es möglich, keine Entscheidungen treffen und somit erstmals keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Für die Herren gab es keine biologische Uhr, sie hatten Zeit. Tatsächlich wuchs ich mit folgenden Worten meiner Mutter heran: „Wichtig ist es, dass Du Dein Leben lebst; heiraten und Kinder kriegen, kannst Du später“. Oft habe ich mich gefragt, ob dieses Mantra unserer Mütter tatsächlich eine so große Hilfe für uns darstellte. Mein altmodischer Wunsch nach Mann und Kindern schien unzeitgemäß. „Bloß nicht! Binde Dich nicht zu jung! Viel wichtiger ist, dass Du beruflich auf eigenen Beinen stehst und finanziell unabhängig bist … Du darfst nie in die Situation geraten, keine Wahl zu haben…“. Frauen im Alter meiner Mutter wussten, was es bedeutete, keine Wahl zu haben.

    Wir, die in den 1960gern Geborenen, wuchsen mit der Gewissheit heran, dass wir Zeit hatten. Keiner machte Druck. Es ging um unsere persönliche Entfaltung, um die Inanspruchnahme aller Möglichkeiten, die uns das Leben bot. Die Folge war, dass wir Frauen keine festen Bindungen eingingen, wenn wir nicht den richtigen Partner fanden; wir genossen Ungebundenheit, flirteten und wechselten Partner. Manche von uns entschieden schon damals, keine Kinder zu wollen. Es interessierte sie nicht, Kinder als ein Lebensziel zu verfolgen. Sie verzichteten, weil sie die Freiheiten, die ein kinderloses Leben bot, nicht entbehren wollten. Berufliche Karriere, sexuelle Ungebundenheit, größtmögliche Beweglichkeit waren für viele die attraktiveren Lebensalternativen. Meine Generation war getragen von einem überschäumenden Gefühl der Selbstverwirklichung – Verlust, Scheitern und Niederlage waren Kategorien, die man nicht in Betracht zog. Ariel Levy beschreibt diese Haltung in ihrem Roman „Gegen alle Regeln“ sehr eingängig: „Wir wuchsen mit dem Gefühl auf, dass wir tun und lassen konnten, was immer wir wollten – es stand uns frei, wir selbst zu sein“. i

    Frauen wie Männer, – wir bewegten uns mit der Aura der Unverwundbarkeit. Männer genossen das großzügige Angebot, nahmen die Ungebundenheit genauso in Anspruch und hatten den Vorzug, nicht in jungen Jahren Verantwortung für eine Familie übernehmen zu müssen. Oft spürte ich, dass Männer meines Alters es begrüßten, wenn Frauen berufstätig und unabhängig waren, aber wenn es um die Wahl eines Lebenspartners ging, dann präferierten sie den Typus ihrer Mutter, eine Frau der früheren Generation, die ihnen signalisierte, ihre Arbeit sei zweitrangig und könne aufgegeben werden, wenn man Kinder bekäme. Dieses widersprüchliche Handeln ging zu Lasten von berufstätigen, engagierten Frauen.

    Sobald Frauen Kinder bekamen, machte ihre Karriere einen Knick und sie akzeptieren wirtschaftliche Einbußen. Nolens volens. Die Männer waren die Gewinner dieser Zeit. Sie hatten die Wahl, wie Susanne Gaschke es auf den Punkt bringt: „Wer sich festlegt hat verloren. Sex gibt es ohne Vorleistung, ohne Eheversprechen, ohne Zustimmung der Eltern, ohne Werbung um das Objekt der Begierde. Alles andere, vom Hemdenbügeln bis zur Nahrungszubereitung, können Männer outsourcen.“ii Oder noch pointierter formuliert: „Die Frau darf Karriere machen, aber er putzt nicht.“iii Diese ewigen Singles, auf dem Frauenmarkt begehrte Männer, attraktiv, gebildet, beruflich erfolgreich, weit gereist, mit der Aura und Erfahrung der Kosmopoliten, wechselten schnell ihre Partnerinnen, wenn sie merkten, dass es ernst wurde.

    Mit rund 1,4 Millionen Kindern war 1964 der geburtenstärkste Jahrgang nach dem Krieg. 40 Jahre später lag die Geburtenrate bei der Hälfte. Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Kinderlosigkeit zwischen 1937 und 1967 von 11% auf 21% fast verdoppelt.iv In einem 2008 erhobenen Mikrozensus stellt das Statistische Bundesamt fest, dass die Zahl der Kinder je Mutter zwar relativ stabil blieb, die Kinderlosigkeit insgesamt allerdings zunahm. Dies bedeutet, dass die meisten Frauen nach wie vor Kinder bekommen, allerdings ist die Prozentuale der Frauen, die kinderlos geblieben sind, im Laufe der letzten Jahrzehnte kontinuierlich gestiegen. Kinderlosigkeit ist heute der Hauptgrund für die niedrigen Geburtenraten.

    „Die Frauenbewegung hat auf diese (zentrale!) biografische Frage keine Antwort gefunden. Den meisten Frauen ist klar, dass gleiche Rechte und Chancen für Frauen nicht bedeuten dürfen, massenhaft auf ein dermaßen zentrales Element von Weiblichkeit zu verzichten … Frauen können diese Möglichkeit als Last begreifen, als ihnen schicksalhaft und ungerechterweise aufgebürdete Verantwortung, aber natürlich auch als Verhandlungskapital für einen neuen Geschlechtervertrag.“, resümiert Susanne Gaschke.v

    Auch ich gehöre zu den 20% kinderlosen Frauen dieser Generation. Ich blieb ungewollt kinderlos, auch mit und trotz medizinischer Hilfe – die kein Allheilmittel bereithält. Ich musste mit diesem Verlust, Scheitern und Niederlage fertig werden, die ich nicht eingeplant hatte, sogar niemals für möglich gehalten hatte.
    Vielleicht ist die Kinderlosigkeit auch ein Preis für die wunderbar sorglosen, ungebundenen Lehr- und Wanderjahre. Wenn man mich heute fragt, möchte ich diese Zeit keinesfalls missen; sie hat mich zu der gemacht, die ich heute bin.
    Allerdings würde ich jungen Frauen raten, die Familienplanung früh mitzudenken und zu berücksichtigen. Es gibt einfach diesen unumkehrbaren Punkt, wenn es für uns zu spät ist. Den dürfen wir nie aus den Augen verlieren, wenn wir uns Kinder wünschen.


    ii Ariel Levy, The Rules do not apply (Gegen alle Regeln), Random House New York, 2018
    ii Susanne Gaschke, Die Emanzipationsfalle, Erfolgreich, einsam, kinderlos. C. Bertelsmann 2005, S. 121 ff.
    iii Susanne Gaschke, Die Emanzipationsfalle, Erfolgreich, einsam, kinderlos. C. Bertelsmann 2005, S. 111.
    iv Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2008, Neue Daten zur Kinderlosigkeit in Deutschland, Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 29. Juli 2009, Berlin
    v Susanne Gaschke, Die Emanzipationsfalle, Erfolgreich, einsam, kinderlos. C. Bertelsmann 2005, S.34.

  • Das Gleichnis vom Fluss des Lebens

    Das Gleichnis vom Fluss des Lebens

    Seit ich mich erinnern konnte, begleitet mich ein Gleichnis, das Bild von einem Fluss mit zwei Ufern. Als junge, heranwachsende Frau sah ich mich auf der einen Seite des Flusses. Erst die Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt würde mich auf die andere Seite des Flusses bringen, so war meine Vorstellung. Diese Erfahrung stand für mich sinnbildlich für die Überquerung des Flusses, – einem Initiationsritual gleich. In meiner verklärten Vorstellung machte dieses Erlebnis uns erst zu Frauen und führte uns zu unserer biologischen Bestimmung. In meinem Verständnis von weiblicher Identität stellte die Überquerung eine entscheidende Rolle dar, denn sie bedeutete die körperliche Verwirklichung meines Frauseins.

    Mich faszinierte die Vorstellung von Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt, ein Prozess, in dem der weibliche Körper dem Heranwachsen neuen Lebens dient. Der sich langsam wölbende Bauch, die anschwellenden Brüste, der Körper von Hormonen geflutet, die einen schützen, Mutter und Kind verbinden und schließlich auf die Geburt vorbereiten.

    In all den Jahren des Versuchens habe ich ein noch stärkeres Bewusstsein für meinen Körper entwickelt. Die Ebbe und Flut meines Zyklus‘, die heranreifenden Follikel wie auch meine Gebärmutter. Alles habe ich gespürt und meinen Körper dabei wie einen Kompass erfahren. Deshalb schmerzt es besonders, meinen Körper nie in seiner biologischen Bestimmung erlebt zu haben. Ich habe den Fluss nicht überqueren können.

    So unbedingt wollte ich wissen, wie es ist, Leben in sich zu spüren, die Regungen eines heranwachsenden Wesens in sich zu verfolgen, dieser graduelle Prozess bis zum Zeitpunkt der Geburt. Dann der Moment der ersten Berührung, das Kennenlernen, das Anlegen an die Brust. Ich sehnte mich nach diesem Wunder. Oft habe ich davon geträumt.

    Für mich stellte das Zeugen eines gemeinsamen Kindes nach dem Liebesakt die absolute Erfüllung einer Liebesbeziehung dar. Wir würden ein Wesen aus Dir und mir in den Armen halten. Du und ich. Das habe ich mir immer gewünscht. Es schmerzt, und wird es immer tun.

    So bleibe an diesem Ufer des Flusses, denn meine Aufgabe liegt auf dieser Seite.

  • Haben Sie Kinder?

    Haben Sie Kinder?

    „Haben Sie Kinder?“ – diese scheinbar harmlose Frage kann Gräben aufreißen und Abgründe auftun. „Nein ich habe leider keine Kinder.“ Mit dem Zusatz leider mache ich deutlich, dass ich ungewollt kinderlos bin. Denn Kinder zu haben war ein ganz großer Lebenstraum von mir und eigentlich eine Gewissheit, mit der ich groß geworden bin. Keine Kinder zu haben, war für mich gleichbedeutend mit Scheitern und Versagen. Man nimmt gemeinhin an, dass Kinder zu bekommen etwas ist, das man einfach entscheiden kann und dann passiert es. Etwas das vom Willen gesteuert wird und dann eintritt. Und wenn man es nicht schafft, dann geht man zum Arzt. Denn die moderne Medizin, so glaubt jeder, kann inzwischen fast alles möglich machen.

    Mein ganzes Leben hatte ich mit der Gewissheit gelebt, eines Tages eigene Kinder zu bekommen. Ich hatte keinen Zweifel, das dies irgendwann selbstverständlich eintreten würde. Ich würde Mutter werden, wie meine Mutter, Großmütter, und alle anderen Mütter auf der Welt. Doch es kam ganz anders. Es wurden viele Jahre des leidvollen und ergebnislosen Versuchens. Ich blieb nicht schwanger und es kam kein Kind. Mein wichtigstes Lebensziel konnte ich nicht erreichen. Auch nicht mit medizinischer Hilfe, oder so viel davon, wie ich in Anspruch zu nehmen bereit war.

    Heute im Rückblick und in dem Versuch dieses schwierige Kapitel in meinem Leben zu verarbeiten, frage ich mich, was habe ich falsch gemacht, oder was ist zu welchem Zeitpunkt schiefgelaufen? Was hätte ich gebraucht und welche Voraussetzungen wären für mich hilfreich gewesen? Zunächst hatte mir das teilnahmslose medizinische Umfeld zugesetzt. Wie kann es sein, dass in einem Bereich, in dem physische Themen sich so unmittelbar auf die Seele auswirken, so wenig Einfühlungsvermögen oder psychologische Begleitung flankierend und automatisch angeboten wird?

    Die nüchtern-pragmatische Vorgehensweise fand ich abstoßend. Ärzte behandelten mich, als hätte ich etwa ein Problem mit meinen Knien, oder irgendeinem nicht funktionierenden Körperteil, und nicht, als ginge es um einen Lebensentwurf und den möglichen Verlust einer Lebens-Gewissheit. Wenn man kein Kind bekommt, ist eine Diagnose über die mögliche Ursache unerlässlich; aber genauso wichtig ist der psychologische Umgang mit der Betroffenen, für die eine Welt zusammenbricht, eine Gewissheit einstürzt, der Sockel, auf dem sie stand. Ich werde Mutter werden, ich werde Kinder haben und eine Familie gründen. Kein Wolkenkuckucksheim, sondern einfach eine Normalität für den Großteil der Menschheit. Kinder zu bekommen und sich fortzupflanzen gehört zum Mensch-Sein. Manche entscheiden sich dagegen, anderen ist es nicht wichtig, aber unerträglich ist es für diejenigen, die diese Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch nehmen möchten, aber aussortiert werden. Es ist wie ein Urteil: Du nicht. Du bekommst kein Kind.

    Es ist ein Schicksalsschlag. Der Lebensentwurf, das Selbstverständliche, das normalen Funktionen wie Essen, Schlafen und Trinken gleichkommt, tritt nicht ein, ohne dass man etwas daran ändern kann. Kein Kind heißt keine Fortpflanzung, keine Weiterentwicklung, kein Wachstum. Der Familienbaum stirbt mit deinem Ast aus. Sackgasse. Bruch. Für Menschen wie mich, die davon geträumt haben und sich ihr Leben lang darauf gefreut hatten, ist es eine Katastrophe.

    Ich blieb kinderlos. Um dieser schmerzvollen Situation einen Sinn zu geben, begann ich darüber zu schreiben.

  • Es passiert nicht

    Es passiert nicht

    In der Anfangsphase meines Kinderwunsches, in der ich ja bereits Ende 30 war, lehnte ich eine künstliche Befruchtung ab. Es war mein Traum und absoluter Wunsch zu lieben und zu empfangen, – daraus sollte ein Kind entstehen. Heute im Rückblick mag das naiv klingen, aber bei so vielen klappte es doch so! Ich war so überzeugt, dass ich die Empfehlungen meiner Mutter und einer Freundin, eine Kinderwunschpraxis wenigstens für eine Beratung aufzusuchen, anfangs ablehnte. Zudem wollte mein Mann, der ja drei heranwachsende Kinder hatte und keinen Zweifel an seiner Zeugungskraft hegte, davon nichts wissen. Mir bereitete die Vorstellung einer extra-korporären Zeugung im Labor große Schwierigkeiten. Wie sollten Embryos in Petrischalen auf neonbeleuchteten „Brutstationen“ gedeihen? Wie würde sich eine solche Zeugungsart auf das Kind auswirken? Ich empfand eine In Vitro Fertilisation (IVF) als einen lieblosen und ICSI als einen geradezu gewaltsamen Eingriff. Meine Skepsis war enorm.

    Etwa 70 Zyklen, 6 Jahre lang, haben wir es probiert, natürlich dann auch mit ärztlicher Hilfe. Das Leben wurde zur Sinuskurve. Die Tage zur Zyklusmitte hin waren von positiver Stimmung bestimmt: ich konnte hoffen, denn ich hatte wieder eine „Runde“ vor mir, wieder ein Versuch, in dem ich alle Kräfte und Energie darauf konzentrierte, die optimalen Voraussetzungen mitzubringen, so gut ich diese beeinflussen konnte, damit es vielleicht dieses Mal klappte. Ab Zyklusmitte, als ich nur noch abwarten konnte, verdüsterte sich die Stimmung, und täglich wurde mir banger zumute aus Angst, das Ergebnis könnte wieder negativ ausfallen.

    Die Kinder der Freunde, die ich als Freunde der meinigen zu erleben träumte, wuchsen heran. Es reihte sich ein Geburtstag an den anderen. Sie wuchsen uns regelrecht davon. Manchmal fühlte ich mich gemieden, weil ich kinderlos war. Gegenüber den wenigen Freunden, die von meinem Kinderwunsch wussten, schämte ich mich. Diejenigen, die Kinder bekamen, schienen mich zu meiden, ich dachte aus Takt, mir der „Gescheiterten“ den Anblick ihrer glücklichen Kinderschar zu ersparen. Die Uhr tickte, unerbittlich. Und doch raffte ich mich jeden Monat wieder auf, und probierte es wieder. Bis ich nicht mehr in der Lage war, darüber zu reden, am allerwenigsten mit meinem eignen Partner.

    Ich hatte den richtigen Zeitpunkt schlichtweg verpasst. Das Bild, das mich in diesen Jahren verfolgte, war das eines ausfahrenden Zuges, von dem ich nur noch die roten Schlusslichter erblicken durfte. Mein lang ersehnter Lebenszug, auf den ich immer aufspringen wollte, war ohne mich abgefahren. Gleichzeitig hatte ich Panik davor, den Lebensabschnitt, der sonst Kindern gewidmet ist, zu überspringen und direkt ins letzte Drittel zu wechseln. Besonders schmerzten Bescheide der Krankenkasse, in denen mir mitgeteilt wurde, dass ich aufgrund meiner Kinderlosigkeit einen höheren Rentenbeitrag entrichten musste. Wusste der Computer der Behörde nicht von meinen zermürbenden Versuchen? Konnte er mir diese bürokratische Gefühllosigkeit nicht ersparen?

    Jahre später fand ich auf dem Speicher meiner Großmutter meine Spielsachen, von meiner Großmutter sorgfältig in Kisten verpackt, damit ich sie eines Tages für meine eigenen Kinder hervorholen würde. Unter den vielen Puppen fand ich eine von mir sehr geliebte Puppe, Giulia, mit der ich sehr viel gespielt hatte. Sie war für mich Inbegriff meines kindlichen Mutterdaseins gewesen und mit ihr hatte ich meine Phantasien von einem späteren, wahren Muttersein gelebt, eine Vorstellung, die mich schon damals mit Vorfreude erfüllt hatte. Nun fand ich meine geliebte Giulia und ihre Kleider, liebevoll von meiner Großmutter verpackt, in den Kisten wieder. Ich holte sie aus ihrem Dornröschenschlaf und mit ihr meine betrogene Gewissheit von damals. Giulia war meine Lieblingspuppe, weil sie die Größe eines echten Babys hatte und auch „echte“ Babykleidung tragen konnte. Ich nahm sie in den Arm, drückte sie an mich und spürte all meine Sehnsucht und Zuversicht von ehedem, die sich nun in Tränen lösten, in Vorahnung dass aus meiner Vorstellung von damals sehr wahrscheinlich nie Realität werden würde.

  • Das Kind um seiner selbst willen

    Das Kind um seiner selbst willen

    Nie wollte ich ein Kind, um meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich sehnte mich nach einem Kind um seiner selbst willen. Es war mein Herzenswunsch, Kinder groß zu ziehen und sie ins Leben zu begleiten. Gewiss spielte auch die Biologie eine Rolle: ich sehnte mich danach, mich fortzupflanzen, um einen weiteren Ast an dem Familienbaum, aus dem ich hervorgegangen war, hinzuzufügen. Ich war neugierig darauf, wie mein Kind aussehen würde. Es ging nie um mich, sondern immer um ein anderes Wesen. Heute kann ich sagen: mein Leben hat auch ohne Kinder einen Sinn, dennoch werde ich mein ganzes Leben das Fehlen eigener Kinder betrauern. 

    Khalil Gibran’s Worte waren ein wichtiger Schlüssel zu dieser Einsicht:

    Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
    Sie sind die Söhne und Töchter der
    Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

    Sie kommen durch euch, aber nicht von euch.
    Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie
    euch doch nicht.

    Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
    aber nicht eure Gedanken,
    denn sie haben ihre eigenen
    Gedanken.

    Ihr dürft ihren Körpern
    ein Haus geben,
    aber nicht ihren Seelen,
    denn ihre Seelen wohnen
    im Haus von morgen,
    das ihr nicht besuchen könnt,
    nicht mal in euren Träumen.

    Ihr dürft euch bemühen,
    wie sie zu sein, aber versucht
    nicht, sie euch ähnlich zu
    machen.

    Denn das Leben läuft nicht
    rückwärts, noch verweilt es im
    Gestern.

    Ihr seid die Bogen, von denen
    Eure Kinder als lebende Pfeile
    ausgeschickt werden.“

    Aus Khalil Gibran, Ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, Von den Kindern, Patmos Verlag, 2013