Fehlgeburt

Wir wissen, dass sich Paare heute immer später entscheiden, eine Familie zu gründen, wenn die Wahrscheinlichkeit einer natürlichen Empfängnis bereits stark zu sinken beginnt. Dementsprechend steigt die Zahl der Fehlgeburten.

Im ersten Jahr meiner Kinderwunschzeit erlitt ich zwei Fehlgeburten, zunächst einen spontanen Abgang in der sechsten Woche, und wenige Monate später eine Eileiterschwangerschaft. Es folgten Heulkrämpfe und totale Verzweiflung, Tag und Nacht. Mir dämmerte, dass es nicht „einfach“ passieren würde. Ich war allein, – mein Mann mit meinen Heulattacken völlig überfordert. Es waren Tage der Trauer, des In-sich-Gekehrt-Seins, der Nichtansprechbarkeit. Was ich erlebte, bestätigen Statistiken, ohne etwas zu beschönigen: ab dem 31. Lebensjahr nimmt die Fruchtbarkeit rapide ab. Die fruchtbarste Zeit liegt zwischen 20 und 30 Jahren. Mit 38 liegt die Wahrscheinlichkeit schwanger zu werden bei nur noch 15% bis höchstens 30%. Mein Abgang war ein ganz normaler Vorfall.

Viele Paare teilen meine Erfahrung. Der Traum von einem Kind schwebte wie eine sich immer weiter entfernende Fata Morgana vor mir. Der Gang in die Apotheke, um einen weiteren Schwangerschaftstest zu besorgen, wurde zu einem demütigenden Erlebnis. Bei jedem Bluttest beim Arzt, wusste ich schon Bescheid, sobald sich die Tonlage der Sprechstundenhilfe einstellte: „Der Test ist …“ – kurzes Innehalten – „… leider negativ“.

Ich ging meiner Arbeit weiter nach, auch um mich abzulenken – aber ich fühlte mich der Welt abhandengekommen. Diese unendliche Niedergeschlagenheit war auch hormonell bedingt. Bildlich gesprochen, hatte ich mich auf einem hormonellen Hochplateau befunden, von dem ich jäh herabgestürzt war. Der Sturz von dem fast euphorischen Hoch in die Leere der Zeit nach dem Abgang ist unfassbar grausam und unbarmherzig. Jede dritte Frau erlebt das übrigens.

Beim zweiten Abgang musste die Eileiterschwangerschaft operativ behoben werden, da sie lebensbedrohlich werden kann. Als ich nach der OP in einem Zweibettzimmer der Frauenklinik erwachte, und langsam wieder zu mir kam, gratulierte mir die Frau neben mir. Ich fragte, wozu sie mir gratuliere. „Na, zu Ihrem Kind.“ Sie konnte nicht wissen, dass sie mich aufgrund der Überfüllung der Klinik ausgerechnet in die Geburtenstation gelegt hatten. Ich war ein sogenannter „Verlegenheitsfall“ und landete dort, wo ich am meisten sein wollte, – aber leider aus dem falschen Grund.

So lauschte ich in den Tagen und Nächten meines Klinikaufenthaltes, wie diese Mutter und ihr Neugeborenes sich kennen lernten: das Baby lag die meiste Zeit bei ihr und schien ihr mit zarten, schmatzenden Lauten zu antworten, während sie es stillte und mit ihm leise plauderte.

Im Nachhinein habe ich oft gedacht, dass der Klinikbesuch mich in eine Art innerliche Starre versetzt hatte. Es war, als verweigerte ich eine Wiederholung dieser überaus schonungslosen und schmerzvollen Erfahrung. Die Abgänge und die Zeit in der Klink hatten mich zutiefst verstört. Mein Mann und die Familie versuchten das Ganze herunterzuspielen. Es sei alles „halb so wild“ – eine Haltung, die mir das Gefühl gab, als handele es sich um eine Blinddarmentfernung und nicht eine gescheiterte Schwangerschaft. Alle gaben sich überzeugt, ich würde bald wieder schwanger werden. Aber keiner ahnte, was es in mir ausgelöst hatte. Ich war wie auf einer abgebrochenen Scholle und trieb allein auf hoher See.

Jahre später fand ich auf dem Speicher meiner Großmutter meine Spielsachen, von meiner Großmutter sorgfältig in Kisten verpackt, damit ich sie eines Tages für meine eigenen Kinder hervorholen würde. Unter den vielen Puppen fand ich eine von mir sehr geliebte Puppe, mit der ich am allermeisten gespielt hatte. Sie war für mich Inbegriff meines kindlichen Mutterdaseins gewesen und mit ihr hatte ich meine Phantasien von einem späteren, wahren Muttersein gelebt, eine Vorstellung, die mich schon damals mit Vorfreude erfüllt hatte. Nun fand ich meine geliebte Puppe und ihre Kleider, liebevoll verpackt, in den Kisten wieder. Ich holte sie aus ihrem Dornröschenschlaf und mit ihr meine Gewissheit von damals. Sie war meine Lieblingspuppe, weil sie der Größe eines echten Babys hatte und auch „echte“ Babykleidung tragen konnte. Ich nahm sie in den Arm, drückte sie an mein Herz und spürte all meine Sehnsucht und Zuversicht von ehedem, die sich nun in Tränen der Gewissheit, dass aus meiner Vorstellung von damals nie Realität werden würde, löste. Lange verweilte ich so, mit meiner Puppe auf dem Arm, und ließ dieses Gefühl noch lange auf mich wirken. Ich war 46 Jahre alt.

Fotonachweis:  ©Alissa Lüpke

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